Auch wenn politische Randgruppen zu den Demonstrationen in Leipzig aufriefen – neben der Linkspartei auch das rechte „Freie Sachsen“ – sehen manche Experten wochen- und monatelange Unzufriedenheit im Allgemeinen für Deutschland. Einigen Schätzungen zufolge ist das Risiko weit verbreiteter sozialer Proteste in diesem Land so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Am Ende kämpften die üblichen Verdächtigen
Jürgen Elsässer hört Gregor Gysi zu, rechts, SED-Nachfolger und viele aus der wütenden Mitte demonstrieren in Leipzig. Wem gehören die “Monday Demos” diesen Herbst? Ein Match am Ende zeigt, dass das Rechts-Links-Muster zumindest bei Straßenkämpfen noch funktioniert.
Quelle: WELT/Martin Heller
Darauf weist auch eine Studie des Beratungsunternehmens Verisk Maplecroft hin. Deutschland gehört damit zu den Ländern mit dem am schnellsten wachsenden Unruhepotenzial. Obwohl der soziale Frieden in Europas größter Volkswirtschaft traditionell relativ stabil ist, hat sich die Situation laut Experten zuletzt deutlich verschlechtert, noch bevor die Bevölkerung die schlimmsten wirtschaftlichen Belastungen durch die Energiekrise zu spüren bekam. In dem von Verisk erstellten Index, der die soziale Stabilität misst, rutschte die Bundesrepublik ab. Im internationalen Vergleich steht Deutschland noch ganz gut da, aber ein Minus von fast einem Punkt pro Quartal markiert eine deutliche Verschlechterung. Lesen Sie auch Die Skala reicht von null bis zehn, wobei null für hohes Risiko und zehn für hohe soziale Harmonie steht. Laut Verisk steht Deutschland mit einem Indexwert von rund sechs nun schlechter da als die Balkanrepublik Bosnien und Herzegowina. Als Hauptursache für die wachsende Unzufriedenheit identifizierten Analysten die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Teure Energie und Lebensmittel haben die Inflation zuletzt auf den höchsten Stand seit fünf Jahrzehnten getrieben. Dem Land droht nun ein Winter, der weitere Preiserhöhungen oder gar eine Rationierung von Erdgas und damit Wärme bringen könnte. Diese Unsicherheit schürt kollektive Ängste und drückt auf die Stimmung im Land. Quelle: Infografik WELT Gleichzeitig äußert ein großer Teil der Bevölkerung Unzufriedenheit mit der Politik. Die Zustimmungswerte für die Ampelallianz sind gerade auf ein Allzeittief gefallen. Gleiches gilt für den Verbraucherstimmungsindex, der zuletzt eine historisch niedrige Ausgabebereitschaft meldete. Mit anderen Worten, Haushalte halten Geld zusammen, weil sie nicht vorhersagen können, was die Zukunft bringen wird. Und auch der Political Risk Index für Deutschland des Analysehauses GeoQuant ist sprunghaft gestiegen und befindet sich nun auf einem Höchststand. Der Preis ist höher als während des Corona-Lockdowns und auch höher als nach der Flüchtlingskrise 2015/16, die die Bundesrepublik politisch erschütterte. Die aktuelle Stimmung bei den oft besonders exponierten kleinen Unternehmen ist ein weiterer Beleg für das sich ausbreitende Krisen- und Bedrohungsgefühl. Laut einer Umfrage des Softwareunternehmens Lexware gibt ein erheblicher Prozentsatz der Selbständigen und Kleinunternehmer in Deutschland Existenzängste an. Quelle: Infografik WELT Gut ein Viertel der Unternehmen mit bis zu neun Mitarbeitern gibt an, sich Sorgen um die finanzielle Existenz zu machen, bei Unternehmen mit bis zu 49 Mitarbeitern ist immer noch gut jeder Fünfte von dieser Existenzangst betroffen. Vor allem die nächste Heizsaison sorgt bereits jetzt für große Verunsicherung. Eskalierende Kosten verschlechtern die finanzielle Situation vieler Selbstständiger und kleiner Unternehmen. Drei Viertel der Befragten (75 Prozent) befürchten steigende Kosten, und fast jeder Dritte (30 Prozent) erwartet, dass die Energiekrise ihre Reserven zur Deckung von Betriebs- und/oder Materialkosten zehren wird. Laut der Lexware-Umfrage verfügen derzeit nur 20 Prozent der Befragten über einen Notfallplan für den Fall, dass Erdgas tatsächlich eingeschränkt wird. Anders sieht es bei großen internationalen Unternehmen aus. Mehrere multinationale Konzerne bereiten sich bereits auf Notfälle vor. Nun wurde bekannt, dass sich die amerikanische Großbank JP Morgan auf einen möglichen großflächigen Blackout in Deutschland vorbereitet. Laut der britischen Zeitung „The Telegraph“ hat das Geldhaus Pläne ausgearbeitet, im Falle eines möglichen Stromausfalls in Deutschland den Betrieb von Frankfurt in die Londoner City und andere europäische Städte zu verlagern.
Das Risiko steigt, insbesondere in Europa
Laut Verisk kämpfen auch andere Länder mit steigender Inflation und wirtschaftlichen Schocks, die durch Russlands Invasion in der Ukraine noch verschärft werden. Dadurch steigt weltweit das Risiko sozialer Unruhen, insbesondere in Europa aufgrund von Energiekrise und Inflation. Anderswo drohen die Nachwirkungen des Krieges die Lebensmittelversorgung zu unterbrechen, was in der Vergangenheit oft Volksaufstände und Revolutionen ausgelöst hat. Ausschreitungen könnten nun zu einem globalen Phänomen werden. Laut der Verisk-Studie weisen von den 198 im Political Unrest Index erfassten Ländern 101 im dritten Quartal 2022 ein steigendes Risiko auf. Das ist der stärkste Anstieg seit Beginn des Rankings im Jahr 2016. In den Entwicklungsländern machen steigende Rohstoffpreise und die Angst vor einer globalen Nahrungsmittelkrise Unruhen wahrscheinlicher. Die Bedrohung wird in den kommenden Monaten zunehmen, sagen Forscher. Quelle: Infografik WELT Bisher haben jedoch relativ wenige Experten eine solche Möglichkeit von Unruhen mit Deutschland in Verbindung gebracht. Dank der Sozialen Marktwirtschaft gilt die Bundesrepublik als relativ homogenes und ausgeglichenes Land. In den letzten Jahrzehnten war die Wahrscheinlichkeit von Unruhen in diesem Land gering. Anders als in Frankreich gibt es hierzulande keine Tradition, Massendemonstrationen gegen politische oder gesellschaftspolitische Entscheidungen zu mobilisieren. Dies ist nun zweifelhaft. Neben Deutschland schneiden auch die wohlhabende Schweiz und die Niederlande auf dem Bürgerunruhenindex in Westeuropa am schlechtesten ab. Allerdings hat die Bundesrepublik einen höheren Störwert als ihre Nachbarn im Westen und Süden. Noch drastischer könnte sich die Stimmung in den Schwellenländern jedoch ändern. „Dies sind wichtige Ereignisse, die den Alltag beeinflussen können“, sagte Jimena Blanco, Chefanalystin bei Verisk Maplecroft, gegenüber Bloomberg. Im schlimmsten Fall könnten Schwellenmärkte „Unruhen, Plünderungen und sogar Putschversuche“ erleben, sagte er. Auch hier sind die steigenden Lebenshaltungskosten der Hauptauslöser. Verisk hat einen kritischen Punkt identifiziert, ab dem sich die Situation verschlechtert. Mit Inflationsraten von 6 Prozent oder mehr in mehr als 80 Prozent der Länder der Welt ist fast die Hälfte der Länder im Index einem „hohen“ oder „extremen“ Risiko ausgesetzt. Nur in den 20 größten Volkswirtschaften (in den G-20-Ländern) liegen 13 über der kritischen Schwelle. Im Frühherbst war die Inflation in der Türkei mit 80 % am höchsten, aber auch Argentinien, Russland, Großbritannien und Brasilien verzeichneten zweistellige Inflationsraten. Für Deutschland meldete das Statistische Bundesamt zuletzt – für August – einen Anstieg der Verbraucherpreise um 7,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Herbst könnte die Inflation auch in Deutschland zweistellig werden. Dann könnte auf den Straßen der Republik eine ganz andere Situation herrschen. Hier können Sie sich unsere WELT-Podcasts anhören Zur Anzeige der eingebetteten Inhalte ist Ihre widerrufliche Einwilligung zur Übermittlung und Verarbeitung personenbezogener Daten erforderlich, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung benötigen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem Sie den Schalter auf „on“ stellen, erklären Sie sich damit einverstanden (jederzeit widerrufbar). Dies umfasst auch Ihre Zustimmung zur Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten an Drittländer, einschließlich der USA, gemäß Artikel 49 Absatz 1 Buchstabe a DSGVO. Hier finden Sie weitere Informationen dazu. Ihre Einwilligung können Sie jederzeit über den Schalter und über den Datenschutz unten auf der Seite widerrufen.